Wie man Kraft aufbaut, das haben uns die Athleten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts gezeigt. Diese Athleten hatten keine hoch-wissenschaftlichen Studien als Grundlage, geschweige denn Zugriff auf das immense Wissen, wie es heute der Fall ist. Der Unterschied zwischen damals und heute ist: Sie sind erfindungsreicher gewesen. Christian Thibaudeau nennt die Ursache im Scheitern vieler Athleten der heutigen Zeit die Verdorbenheit verschiedener Ideologien.
Damit mag er sicherlich recht haben. Vergegenwärtigst du dir einmal dein eigenes Trainingsverhalten: Ist es auf konventionellen Methoden aufgebaut die “wissenschaftlich ungefährlich” sind? Suchst du dir irgendwelche utopischen und abartigen Pläne von Idolen die vielleicht auf durch den Missbrauch von Dopingmitteln zustande kommen und umsetzbar sind? Oder hast du dich mit deinem Körper und deinem Ziel auseinander gesetzt und einfach mal “Dinge gemacht und ausprobiert”?
Eine der möglichen Ursachen für die großen Erfolge der Athleten der damaligen Zeit ist ihre Experimentierfreudigkeit gewesen. Das lag wohl vor allem daran, dass sie gezwungen waren zu experimentieren. Leider wird immer wieder ein Großteil dieses Wissens heute vergessen oder bleibt ungenutzt. Das Zeitalter “Alles haben wollen, mit geringstmöglichem Aufwand” trägt sicherlich den Rest dazu bei. Auch die Einstellung “Ich trainiere, nur um gut auszusehen” hat vieles “kaputt” gemacht.
In Anlehnung an Thibaudeaus Artikel betrachten wir drei unkonventionelle erfolgreiche Wege aus dem 20sten Jahrhundert.
Hermann Goerner: Deadlift Ramp – trainiere nur mit Fingern.
Griffkraft ist immer wichtig. Besonders im Reißen, Umsetzen, Kreuzheben und für die Klimmzüge. Hermann Goerner war ein Strongman des frühen 20ten Jahrhunderts. Er hat unter anderem 730lbs (ca. 330kg – 8. Oktober 1920, Leipzig) gehoben – und das einarmig. Es scheint, dass der Mann mit einem Zweifingergriff 600lbs gehoben hat. Zweifinger – stell dir das mal vor…
Für seine immense Kraft hat er wie folgt trainiert:
- Starte Kreuzheben und greife nur mit dem Zeigefinger. Absolviere damit Sätze zu je drei Wiederholungen und erhöhe dein Gewicht in jedem Satz, bis zu an deinem 3RM angekommen bist. Beachte: Das 3RM deines Einfinger Griffs.
- Steigere das Gewicht und nutze zwei Finger je Hand. Diesem Leiterprinzip folgst du, bis du an deinem Zweifinger 3RM angekommen bist.
- Folge dem Leiterprinzip mit einem Dreifinger Griff, bis du bei deinem Dreifinger 3RM angekommen bist.
- Setze dein Training mit dem normalen Griff bis zu deinem 3RM fort. Steigere dazu das Gewicht progressiv. Danach kannst du mit einem hook oder mixed grip weiter trainieren.
Christian Thibadeau empfiehlt diesen Ansatz für schnelle Erfolge zwei Mal die Woche zu nutzen. Eigener Erfahrungswerte habe ich für euch zu diesem Zeitpunkt noch keine.
Chuck Sipes: Kraft durch Heavy Overloads – Trainiere mit mehr als dein 1RM
Chuck Sipes ist ein erfolgreicher Bodybuilder Mitte des 20sten Jahrhunderts. Er hat mehrmals an der Mr. Olympia teilgenommen. Im Bankdrücken zählte er zu den stärksten seiner Zeit. Er drückte auf der Bank 570lbs Raw bei einem Körpergewicht von 220lbs. Bodybuilder werden immer belächelt und genießen den Ruf sie hätten Masse aber keine Klasse. Sipes bewies das Gegenteil. Sein Erfolgsrezept: Er trainierte einfach Schwer.
Zu seinen bevorzugten Methoden um Kraft aufzubauen, gehörte das Prinzip des Überladens. Dabei benutzt du mehr Gewicht als du im vollen Bewegungsumfang schaffst. Du startest mit Teilbewegungen und arbeitest dich an eine volle Bewegung heran.
Folgendermaßen setzt du das Training um:
- Arbeite dich schrittweise zu deinem ersten schweren Satz hin. Arbeite dazu mit 3 bis 4 langsam schwerer werdenden Sätzen.
- Nutze rund 20 bis 35kg mehr als in deinem ersten schweren Satz. Bring die Stange in die Startposition. Bewege sie nur 1cm bis 2cm runter – gerade so weit, dass die Ellenbogen gebeugt sind. Halte die Position für 10 Sekunden. Arbeite mit 3 von diesen Sätzen. Wenn sich das Gewicht deutlich zu leicht anfühlt, erhöhe das Gewicht von Satz zu Satz.
- Absolviere deine schweren Sätze für das Krafttraining. Dabei ist die Methodik egal. Trainiere mit bis zu 7 Arbeitssätzen unter 5 Wiederholungen je Satz.
- Packe zu deinem schwersten Satz 10 bis 20kg zusätzlich drauf. Absolviere Teilwiederholungen zwischen 1/3 und 2/3 des vollen Bewegungsumfanges. Arbeite mit 3 Sätzen zu je 2 bis 3 Wiederholungen.
Vergiss Isolations- oder andere Übungen für Trizeps oder Brust. Bei diesem Volumen reicht eine Übung für eine Trainingseinheit vollkommen aus. Eine brutale Trainingsmethode. Thibaudeau verspricht damit einen rasanten Kraftaufbau. Nach diesem Prinzip kannst du bis zu 2x in der Woche trainieren.
Ich gebe dir an dieser Stelle zu bedenken: Erhöhst du das Volumen und die Frequenz für Push-Übungen, ignoriere nicht den Pull-Anteil in deinem Training – vor allem die aufrichtende Muskelkette im Bereich der BWS/hinteren Schulter.
Paul Anderson: Kraft durch progressive Range of Motion
Paul Anderson war ein Kraft Monster. Er drückte 435lbs über den Kopf, hat 1200lbs gebeugt, 820lbs gehoben, und knapp 630lbs auf der Bank gedrückt. Die Leistung hat er Raw erbracht – ohne Equiptment. Wenn ich daran denke, dass ich noch nicht einmal beim Kreuzheben eine 2 vorne stehen habe… Das ist beachtlich.
Anstatt das Gewicht als sich zu verändernde Variable, nutzte er den Umfang der Bewegung als verändernde Variable – und das gezielt. Das will ich dir am Beispiel Kreuzheben verdeutlichen.
So setzt du die Methode es in deinem Training um:
- Starte mit dem Gewicht in einer erhöhten Position, etwa mittig der Oberschenkel oder knapp über dem Knie. Lege Scheiben unter die Stange so, dass das Gewicht in der Ausgangsposition “tot” ist.
- Trainiere jeden Satz bis zum Punkt des momentanen muskelversagens (Allout sets / maximale Wiederholungszahl).
- Reduziere die Startposition alle ein bis zwei Wochen, bis du nach 8-10 Wochen bei dem vollen Bewegungsumfang der Übung angekommen bist. Mit größer werdendem Bewegungsumfang reduziert sich deine maximale Wiederholungszahl je Arbeitssatz. Setze das Gewicht zwischen den Wiederholungen nicht ab, sondern halte die Spannung aufrecht.
- Wähle etwa 10% bis 15% über dem Trainingsgewicht deines letzten Trainingszyklus.
Thibaudeau empfiehlt je Zyklus maximal zwei ausgewählte Lifts, einen für den Ober- und einen für den Unterkörper und 4 bis 5 Arbeitssätze. Du kannst jeden Lift zwei Mal in der Woche mit dieser Methode trainieren. Es bietet sich an diese Übungen mit dieser Methode als Basis in einen Trainingsplan mit einem 2er- oder aber einen 4er-Split umzusetzen.